Bis vor gar nicht all zu langer Zeit waren die Alpen noch sich selbst. Sie waren grossartig, zauberhaft, schön, majestätisch und gewaltig – um einige passende Adjektive zu nennen. Offenbar genügt das nicht mehr. Der heutige Mensch, dauer- oder sogar hyperaktiv, braucht mehr Adrenalin, ständig einen grösseren Kick. Und offenbar genügen die Alpen für sich einfach nicht mehr.
In meiner Kolumne »Freiluftprotokoll« habe ich bereits über Hängebrücken, Leuchttürme auf Passhöhen und nur mit Seilbahnen zugängliche Shopping-Center gelästert. Kletterparks und Rutschbahnen habe ich bislang links liegen gelassen. Auch die Seilbahnen selbst wurden geschont, da sie nicht unwesentlich zum Komfort des wandernden Schreiberlings beitragen, und auch Kinder erfreuen.
Aber die zunehmende »Eventitis« führt auch hier zu übersteigerten Selbstdarstellungen und wahnwitzigen Projekten. Es gilt die Devise: grösser, höher, schneller, weiter … bis hin zum Extremen. Beispiel gefällig? Neu eröffnet im Hoch-Ybrig: der Sternensauser. Die längste Seilrutsche der Welt. Ein paar nackte Zahlen: 2,3 km lang, max. 70 bis 90 km/h, an die 400 Höhenmeter von der Bergstation Sternen hinunter zur Talstation. Wenn da die Bremse versagt … Und ich bin mir sicher, auch diese Zahlen (im Moment offenbar Weltrekord gemäss Aussage der Hoch-Ybrig AG) werden noch übertroffen werden.
Selbst vor den bekannten, beliebten und bewährten Seilbahnen machen die Extremisten nicht halt. Am Stanserhorn im Bau befindlich – die Cabrio-Seilbahn. Ab Mai 2012 soll eine doppelstöckige Seilbahnkabine auf das Stanserhorn fahren. Der obere Stock der Kabine ist offen – eben Cabrio. Wind, Wetter und Berge pur, ungefiltert. Satte 24,9 Millionen harte Schweizer Franken werden investiert, 20 bis 25 Prozent mehr Gäste sollen die Investition wieder einspielen. Nur; Wind, Wetter und Berge pur gab es schon vorher. Zum Beispiel am Weissenstein. Einfach nicht als Stehplatz während der Fahrt. Braucht es das? Ist das vielleicht eine Idee für die SBB? Offene Viehwagen ohne Sitze, ohne Komfort als Pendelzüge? Der morgendliche Adrenalin-Kick für gestresste Manager …
20 bis 25 Prozent mehr Gäste will man anlocken. Aber woher kommen diese Gäste? Aus dem Nichts? Nein, die werden anderen Bahnen abgeworben. Also müssen die anderen auch eine Attraktivitätssteigerung vornehmen, wollen sie ihre Gäste nicht verlieren. Der Teufelskreis der Investitionen beginnt zu drehen. Als negativ Beispiel sei der Ski-Tourismus aufgeführt. Eine Destination ohne Beschneiungsanlage, ohne leistungsfähige Multi-Maxi-Gondel-Sesselbahn ist weg vom Fenster. Und so investieren alle Gelder in Millionenhöhe in Schneekanonen und Speicherseen, ohne über die Folgen nachzudenken. Genau dieses touristische Wettrüsten wird auch vor den Sommer-Destinationen nicht haltmachen. Sie wissen schon, grösser, höher, weiter, schneller …
Ob das nötig ist, sei dahingestellt. Ich will dem Fortschritt sicher nicht im Wege stehen, ich hinterfrage nur. Oder stelle zum Teil infrage. Für mich reicht eine einfache Kabine oder ein nostalgisch offener Sessel. Und – die Alpen als Kulisse, Weg und Ziel. Die ersten Touristen im 19. Jahrhundert kamen genau deswegen. Und die vielen ausländischen, die jährlich die Schweiz besuchen? Kommen die wegen Hängebrücken, Sternensausern und Ähnlichem in die Schweiz? Nein, die kommen wegen der Berge und der Natur, ein bisschen auch wegen Schokolade, Käse und Uhren.
Und für Sie? Was halten Sie von den neuesten Ideen und Visionen?
Ihr einfacher Bergbegeher, Gregor A. Ambühl
Nachtrag: Als sich diese Kolumne beim Lektor zur Korrektur befand, wies mich ein Leser auf die Sendung Kulturplatz des Schweizer Fernsehens hin. In der Sendung vom Mittwoch, 13.06.2011 wurde der »Funkpark Alpen« thematisiert und kritisch hinterfragt. Falls Sie die Sendung, wie ich, verpasst haben, im SF Videoportal kann die Sendung online genossen werden: SF Kulturplatz, Sendung vom 15.06.2011
Die Cabrio-Bahn ist mittlerweile in Betrieb und zieht, wie gewünscht, Touristenmassen an. Allerdings ergeben sich teilweise extreme Wartezeiten für die Fahrt.
Links:
Hoch-Ybrig, Sternensauser
Stanserhorn-Bahn, Cabrio-Projekt
Tages-Anzeiger: Mit dem Cabrio auf 1898 Meter
Fussgängerhängebrücke Raiffeisen Skywalk